17. Juni 2013
Kirche als Kulisse für Kinderspiele und Picknick
In dem Buch “Kindheit und Jugend im Michaelisviertel” werden viele fast vergessene Erinnerungen wieder wach
Hildesheim (bar). Wer an das Michaelisviertel denkt, denkt wohl zuerst an die Weltkulturerbe-Kirche Sankt Michael. Aber welche Menschen leben und lebten hier, welche Plätze sind für sie wichtig, welche Erinnerungen verbinden sich für sie damit? Diesen Fragen hat sich eine Arbeitsgruppe von angehenden Abiturienten der Elisabeth-von-Rantzau-Schule angenähert, die Idee dazu kam von der Quartiersinitiative „Mittendrin“.
Die Schüler haben Interviews geführt mit Anwohnern zwischen zehn und 99 Jahren und daraus ein Buch gemacht: „Kindheit und Jugend im Michaelisviertel. Kirchturm, Kiosk, Kinderspiele.“ Das Buch wurde jetzt mit einem kleinen Festakt für die Beteiligten im Altenheim Magdalenenhof vorgestellt.
Die Michaeliskirche spielt allerdings auch in den Erinnerungen der Menschen eine wichtige Rolle, nicht nur als Ort von Weihnachtsgottesdienst und Konfirmation, Kindergottesdienst und Jugendarbeit. Der Michaelishügel war und ist ein beliebter Spielplatz – mit der Kirche als Burg oder Schloss im Hintergrund, als Spielwiese zum Radschlagen, als Picknickplatz und Rodelhügel. Außerdem besserten die Kinder gern ihr Taschengeld auf, indem sie bei Hochzeiten ein Seil spannten und das Brautpaar Pfennige werfen ließen. Der Wiederaufbau der Kirche nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war außerdem für die Jugend der Gemeinde eine prägende Erfahrung; freiwillig mit viel Begeisterung packten damals alle mit an.
Allerdings hat sich das Leben sehr verändert in den vergangenen 90 Jahren. Einst spielten die Kinder zumeist auf der Straße, ungestört
von Autoverkehr, machten mit ihrer Mutter Einkäufe in einer Vielzahl von Geschäften im Quartier. Heute sind nur noch wenige Läden geblieben, die Kinder nutzen vor allem die Spielplätze und haben aus der Schule oft Freunde, die anderswo wohnen. Die Älteren der Befragten erinnern sich auch an eine völlig andere Wohnsituation, an das Klo auf halber Treppe, das Samstagbad im Waschhaus und Hühner und Schweine auf dem Hinterhof. Mit Hilfe von „Mittendrin“ fanden die Elisabeth-von-Rantzau-Schüler Gesprächspartner, die seit der Kindheit ihr ganzes Leben im Viertel verbracht haben oder die im Alter zurückgekehrt sind. Sie wurden herzlich begrüßt, mit Kaffee und Kuchen bewirtet und konnten sich meist über eine Flut von Erinnerungen freuen. Die Gespräche nahmen die Schüler auf und brachten sie später in Schriftform. Historikerin Andrea Germer half bei der Redaktion und bereitete mit den Schülern die Interviews vor. Das Projekt sei Teil des Religionsunterrichts in einer 13. Klasse gewesen, berichtete Schulleiter Alois-Ernst Ehbrecht. Religion bedeute schließlich heute nicht mehr das Auswendiglernen von Bibelstellen und Geboten, wesentlich sei dabei die Begegnung. „Wie viele Menschen haben sich kennengelernt, die sich sonst nie begegnet wären?“ Für die Schüler sei es eine Möglichkeit gewesen, im Leben zu lernen und Theorie und Praxis zu verbinden. Die Schule ist mit dem Viertel übrigens auch durch die Namensgeberin verbunden: Elisabeth von Rantzau gründete im 17. Jahrhundert am Fuße der Michaeliskirche das Kloster Klein Bethlehem.
(Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, erschienen am 11.06.2013, Fotos: Barth)